Christliches und Muslimisches Gebet
Ein Vergleich
Das Gebet ist im Islam von zentraler Bedeutung. Wer von „Gebet“ spricht, meint meist das fünfmal täglich gesprochene rituelle Pflichtgebet, die „salât“: Dieses Gebet unterscheidet sich grundlegend vom christlichen Gebet. Es muß von jedem Muslim, von Männern und Frauen, ab der Pubertät jeden Tag zu genau festgelegten Tageszeiten – notfalls ist es später nachzuholen – auf Arabisch in Richtung Mekka gesprochen werden.
Gebetszeiten
Der Gebetsrufer, der Muezzin (arab. mu'addin) – heute allerdings meist ein Tonband – ruft die Gläubigen vom Minarett der Moschee: „Allah ist größer ... Ich bezeuge, es gibt keinen Gott außer Allah ... Muhammad ist der Gesandte Allahs...“ Sobald dieser Gebetsruf erschallt ist, ist nur das rituelle Pflichtgebet erlaubt, kein freies Gebet (arab. du'â'). Das Morgengebet ist bereits vor der Dämmerung, im Sommer oft schon vor vier Uhr morgens. Darauf folgt das Mittagsgebet vor dem Sonnenhöchststand, das Nachmittagsgebet, das Abendgebet nach Sonnenuntergang und das Nachtgebet bei Dunkelheit. Zu bestimmten anderen Tageszeiten ist das Gebet dagegen ausdrücklich verboten wie z. B. zum Zeitpunkt des Sonnenaufgangs. Auch das Gebet von Nichtmuslimen ist grundsätzlich ungültig.
Das rituelle Gebet
Im Detail weichen die Rechtsschulen im Gebetsablauf etwas voneinander ab, und es gibt mehrere vorgeschriebene Gebetshaltungen. Zunächst steht der Betende mit dem Gesicht in Richtung der Ka'ba, dem Zentralheiligtum des Islam in Mekka, und spricht meist den ersten Koranvers aus der letzten Sure „Ich suche Zuflucht beim Herrn der Menschen“ (Sure 114,1). Es folgt die „Absichtserklärung“ (arab. niyya), ohne die ein Gebet immer ungültig ist, die festlegt, wie viele Gebetsabschnitte jetzt durchgeführt werden. Dann spricht der Betende: „Gott ist größer“ und tritt damit bis zur Zeit nach dem Gebet in einen Weihezustand ein. Danach kann der Betende ein Lob sprechen wie „Lob sei dir, o Gott, Lob sei dir! Groß ist dein Name ... es gibt keinen Gott außer dir.“ Danach folgt die Rezitierung der ersten Sure, der Fâtiha, weitere Koranverse, Verneigungen und Lobverse.
Wer sich Gott im rituellen Gebet unterwirft, leistet ihm Gehorsam, betet ihn an und akzeptiert seine Allmacht – oft ist es aber zugleich auch Ausdruck echter Frömmigkeit und des Lobpreises Gottes (50,39–40). Viele Muslime nehmen das Gebet sehr ernst.
Die Waschungen und andere Vorschriften
Vor dem Gebet muß sich der Beter der ‚kleinen’ oder ‚großen’ rituellen Waschung – normalerweise mit Wasser, notfalls mit Sand – unterziehen. Nur, wer sich so gereinigt hat – und sich nicht erneut z. B. durch den Genuss von Alkohol verunreinigt hat – darf vor Gott treten (4,43). Fromme Muslime sind oft sehr besorgt über die Frage, ob sie sich rituell verunreinigt haben, denn das könnte schwerer wiegen als eine sogenannte ‚kleine’ Sünde. Der Koran sagt: „Und er [Gott] liebt die, die sich reinigen“ (Sure 2,222; 9,108). Nach der Überlieferung dient die Waschung zur Festigung des Glaubens, sie führt zur Reue und macht vor Gott rein von Sünde.
Der Betende muß vorschriftsmäßig gekleidet sein: Frauen vollständig bedeckt, ausgenommen Gesicht und Hände, Männer vom Nabel bis zum Knie. Zumindest für das Gebet zu Hause muß der Beter den Gebetsablauf mit seinem mehrmaligen Niederknien und Niederfallen zur Erde mit allen Worten und Bewegungen genau beherrschen, in der Moschee folgt er dem Vorbeter. Jegliche Abweichung davon wie Essen, Sprechen, Gehen o. ä. außer den vorgeschriebenen Handlungen machen das Gebet ungültig. Es ist dann „nichtig“ (arab. bâtil) und zählt nicht bei der Erfüllung der täglichen fünfmaligen Gebetspflicht mit. Der Beter muß es nun von Anfang wiederholen. Fromme Muslime sprechen oft ein zusätzliches Gebet, für den Fall, dass ihnen unwissentlich ein Fehler unterlaufen ist.
Freiwillige und freie Gebete
Über das fünfmalige tägliche Gebet hinaus können weitere rituelle Pflichtgebete gesprochen werden. Zusätzlich kennt und empfiehlt der Islam aber auch Lob- und Bittgebete, die z. B. bei Krankheit oder zur Vergebung von Sünden gesprochen werden. Manchmal werden Gebete selbst formuliert, meist finden jedoch vorformulierte Gebete aus Gebetssammlungen Verwendung. Dieses freie Gebet hat allerdings im Vergleich zu den rituellen Pflichtgebeten einen nur untergeordneten Stellenwert.
Der Koran berichtet von Menschen, die sich mit bestimmten Bitten an Gott wandten und erhört wurden (3,38; 19,2–6). Gott fordert im Koran die Gläubigen auf, ihn um Hilfe anzurufen: „Betet zu mir, dann werde ich euch erhören“ (40,60), oder Sure 2,186: „Und wenn dich [= Muhammad] meine Diener nach mir fragen, so bin ich nahe, und ich erhöre, wenn einer zu mir betet, sein Rufen.“ Zwar hoffen Muslime auf die Hilfe Gottes in Not und Bedrängnis, diese Verse bedeuten jedoch nicht, dass es im Islam üblich wäre, alle Anliegen des täglichen Lebens im Gespräch vor Gott zu bringen. Freie Gebete werden besonders oft als Bitten bei Heiligengräbern vorgebracht. Üblich sind auch Stoßgebete im Alltag wie z. B.: „Herr, sei mir freundlich...“ u. a.
Gebet tilgt Sünden
Die absichtliche Vernachlässigung des Gebets ist eine der schwersten Sünden, die ein Muslim überhaupt begehen kann. Er wird nach Auffassung der Überlieferung damit zum Ungläubigen, der ins Höllenfeuer geworfen wird, wenn er vor seinem Tod nicht bereut. Muhammad soll gesagt haben: „Das erste, wofür der Mensch am Tage des Gerichts zur Verantwortung gezogen wird, ist das Gebet.“ Für Männer besteht zusätzlich die Pflicht, das Freitagsgebet in der Moschee zu verrichten. Nach einer Überlieferung ist das Glaubensleben desjenigen, der das Freitagsgebet versäumt, nichts wert, auch sein Fasten und seine Wallfahrt gelten vor Gott nichts. Auch Kranke und Gebrechliche sind weiter zum Gebet verpflichtet (das sie nachholen müssen), Todkranke müssen das Gebet gedanklich vollziehen. Kinder sollen spätestens ab 7 Jahren zum Gebet angeleitet und ab 10 gezwungen werden, notfalls mit Schlägen.
Das gesprochene Gebet ist ein verdienstvolles Werk, das dem Menschen im Gericht auf die Waagschale mit den guten Werken gelegt wird. So wirkt das Gebet mit zur Errettung. Das tägliche Pflichtgebet ist aber auch eine Last; wenn z. B. nach einer Krankheit viele versäumte Gebete nachgeholt werden müssen. Da niemand in der Lage ist, sein Leben lang treu die tägliche Gebetspflicht zu erfüllen, bleibt die Unsicherheit, zum Zeitpunkt des Todes nicht genug getan zu haben.
Im Volksislam herrscht die Überzeugung, dass das Gebet kleinere Sünden, das Gebet in der großen Moschee in Mekka auch große Sünden tilgt. Das Gebet stellt die Verbindung des einzelnen zur weltweiten Gemeinschaft der Muslime (der umma), zu Gott und letztlich auch zum Propheten Muhammad her, denn auf ihn wird bei jedem der Pflichtgebete Segen und Heil herabgefleht.
Christliches Gebet
Das Gebet eines Christen ist immer ein freiwilliges Gebet, niemals ein Pflichtgebet. Der Heilige Geist bringt in einem Menschen den Wunsch hervor, sich im Gebet mit allen Anliegen an Gott zu wenden. Es ist ein persönliches Gespräch mit Gott und ein großes Vorrecht, denn der Sünder ist nicht würdig, vor Gott zu treten. Nur weil Jesus den Betenden vor Gott vertritt und ihn reinigt von „aller Ungerechtigkeit“ (1. Johannes 1,9), darf er vor Gott treten, vor den „Thron der Gnade“ (Hebräer 4,16).
Jeder, der beten möchte, kann sich jederzeit und überall an Gott wenden. Weil Gott der Vater seiner Kinder ist, erhört er ihre Bitten. Besondere Verheißungen Gottes liegen auf dem einmütigen gemeinschaftlichen Gebet von Gläubigen (Matthäus 18,19–20). Gottes Kinder können sich an Gott mit der vertrauten Anrede „Lieber Papa“ („Abba, lieber Vater“, Römer 8,15) wenden. Was könnte größere Nähe, Vertrautheit, Fürsorge und Liebe ausdrücken? Im Islam dagegen ist Gott nicht der Vater, sondern nur der Schöpfer der Menschen.
Weder im Alten noch im Neuen Testament gibt es Anweisungen, wie oft und mit welchen Formulierungen ein Christ zu beten habe. Es gibt zwar Gebetstexte wie z. B. die Psalmen oder Jesu Gebete, aber keine Bestimmungen, die alle Christen befolgen müßten. Jesus selbst verwirft die Vorstellung, das Gebet müsse in eine bestimmte Richtung oder an einem bestimmten Ort (Johannes 4,21) gesprochen werden, denn Jesus selbst ist der Weg zu Gott (Johannes 14,6). Es gibt keine vorgeschriebenen Gebetszeiten, keine Anzahl der Gebete, keine Körperhaltung, keine bestimmte Kleidung, keine Waschungen, keine Gebetsform und keine vorgeschriebene Sprache, in der gebetet werden muß, um das Gebet angenehm vor Gott oder „gültig“ zu machen. Entscheidend ist die innere Einstellung des Beters, nicht seine richtig formulierten Worte. Sein Gebet soll ernsthaft sein, er soll im Glauben beten (Matthäus 21,22; Jakobus 1,6), in demütiger Haltung (Jakobus 4,6; Lukas 18,13) und anderen vergeben, so wie Gott ihm vergibt (Matthäus 6,14–15).
Das Wasser der rituellen Waschungen macht nach biblischer Auffassung nicht rein vor Gott: Reinheit kann nur durch Blutvergießen erreicht werden (Hebräer 9,22), und zwar nur durch das Blut Christi (Hebräer 10,14). Und schließlich wirkt nach biblischer Auffassung das Gebet im Jüngsten Gericht auch nicht mit zur Errettung, denn Errettung geschieht allein aus Gnaden durch Glauben (Römer 5,1–2; Galater 3,11–14).
Autorin dieser Ausgabe: Prof. Dr. Christine Schirrmacher
Stand: Oktober 2007