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Kindererziehung in muslimischen Familien

In vielerlei Hinsicht unterscheidet sich die Kindererziehung in muslimischen Familien in Deutschland nicht von anderen Familien. Auch muslimische Familien - heute meist Migranten der zweiten oder dritten Generation - wünschen sich, dass ihre Kinder in Schule und Gesellschaft sowie auf dem Arbeitsmarkt Erfolg haben und einer gesicherten Zukunft entgegen sehen. Manche erhoffen für ihre Kinder herausgehobene Positionen als Ärzte, Ingenieure oder Dozenten und setzen alles daran, dass ihre Kinder schulisch und beruflich vorankommen; dazu gehören religiöse wie nichtreligiöse Familien. Andere Eltern bekamen in ihrem Herkunftsland wenig Chancen auf eine gute Schulbildung, können ihre Kinder hier auf diesem Weg kaum adäquat begleiten, erhoffen sich aber, dass die Schule und Gesellschaft diese Aufgabe übernehmen. Wieder anderen erscheinen weniger die deutschen Bildungsabschlüsse erstrebenswert, als vor allem die Erziehung nach der traditionellen islamischen Lebensordnung, ja manche möchten ihre Kinder vor den vermeintlich verderblichen Einflüssen der westlichen Gesellschaften so weit wie möglich bewahren. Bei Mädchen geschieht dies häufig, indem sie ab der Pubertät eng ans Haus gebunden werden, teilweise vorzeitig aus der Schule genommen und nicht selten in arrangierte Ehen oder Zwangsehen verheiratet werden.

Zu einer islamischen Ehe gehören in der Regel Kinder. Selbstgewählte Kinderlosigkeit ist kaum je eine Option. Die Zahl der Kinder nimmt allerdings in der Migration deutlich ab; heute sind es oft nicht mehr vier Kinder, sondern häufig zwei, allenfalls drei. Kinder gelten aber immer noch als Zeichen einer guten Ehe und und machen die Familie „komplett“. Der Koran sagt: „Vermögen und Söhne sind Schmuck des diesseitigen Lebens“ (Sure 18,46), und viele Mütter und Väter sind sehr stolz auf ihren Nachwuchs. In islamisch geprägten Ländern spielen Kinder bis heute für den Lebensunterhalt der Familie und die Altersversorgung der Eltern eine wichtige Rolle.

Für viele Ehepaare ist es schwer, zu akzeptieren, wenn sich dauerhaft keine Kinder einstellen. Noch immer wird dieser Umstand eher der Ehefrau angelastet; gleichzeitig suchen heute viele Paare selbstverständlich Hilfe bei der westlichen Medizin, gelegentlich auch noch bei der Magie. In traditionellen islamisch geprägten Gesellschaften werden – auch in Ermangelung von Alternativen - eher die Dienste der Wunderheilerin in Anspruch genommen, die Wallfahrt zu einem Heiligtum und ein Gelübde oder Opfer erbracht.

Wird ein Kind in eine muslimische Familie hineingeboren, herrscht große Freude, in vielen Familien unabhängig davon, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist. Meist wünscht man sich beide Geschlechter; allerdings verbessert in traditionellen Familien die Geburt eines Jungen noch immer das Ansehen der Ehefrau. Dem Kind soll unmittelbar nach der Geburt das islamische Glaubensbekenntnis ins rechte Ohr gesprochen werden („Es gibt keinen Gott außer Allah, und Muhammad ist sein Prophet“), manchmal werden auch Schutzpraktiken wie z. B. Amulette, zur Abwehr des „Bösen Blicks“ eingesetzt. Kleine Kinder genießen oft viele Freiheiten. Man geht davon aus, dass Säuglinge und Kleinkinder zunächst einmal ganz und gar unschuldig und unwissend sind und nichts Böses kennen und wollen. Während die Mädchen in vielen Familien aber recht früh zum Gehorsam und zur Mithilfe im Haushalt erzogen werden, haben die Söhne meist größere Freiheiten, die einige annehmen lässt, sie bräuchten sich von Frauen – z.B. Lehrerinnen – grundsätzlich nichts sagen zu lassen.

Religiöse Erziehung

Wer in eine muslimische Familie hineingeboren wurde, gilt automatisch als Muslim und wird als solcher erzogen. Es ist keine spätere eigene Hinwendung zum Glauben, kein öffentliches Bekenntnis oder eine rituelle Handlung nötig, um das Kind in die islamische Gemeinschaft aufzunehmen, die etwa mit der christlichen Taufe oder der Konfirmation vergleichbar wären. Diese Zugehörigkeit zur islamischen Gemeinschaft kann natürlich je nach Familie sehr unterschiedlich gepflegt werden.

Gläubige Muslime gehen davon aus, dass der Islam die „natürliche Religion“ eines jeden Menschen sei. Nur wenn Kinder in einer nichtislamischen Umgebung aufwachsen, so meint man, wird das Wissen um diese natürliche Religion verdunkelt und sie werden zu Juden oder Christen gemacht. In einer muslimischen Familie geht es also nur darum, den als Muslim Geborenen seiner Anlage gemäß nun auch als Muslim aufwachsen zu lassen. Dazu gehört die – für traditionell geprägte Muslime selbstverständliche – religiöse Unterweisung des Kindes in der Familie und manchmal auch in der Koranschule.

Religiöse Erziehung geschieht in den Familien auch dadurch, dass das Kind mit islamischen Festen und Feiertagen aufwächst, mit Speise- und Reinigungsvorschriften, mit den schariarechtlichen Auffassungen davon, was erlaubt und was verboten ist (z. B. Alkohol und Schweinefleisch), mit dem rituellen Gebet, dem Fasten im Monat Ramadan, mit den islamisch begründeten Regeln für Ehe und Familie, mit den Erzählungen der Prophetengefährten aus den Überlieferungen, mit der geschlechtsspezifischen Erziehung und den islamisch begründeten Moralvorstellungen. Dabei wird der Sohn vom Vater und die Tochter von der Mutter religiös unterwiesen und Schritt für Schritt auch an die Glaubenspflichten, die „Fünf Säulen“ des Islam, herangeführt: Bekenntnis, Gebet, Fasten, Almosen, Wallfahrt.

Für den Sohn folgt etwa im Alter von vier bis zwölf Jahren sein Beschneidungsfest, mit dem er in die Gemeinschaft der Männer aufgenommen und ein vollwertiges Mitglied der Religionsgemeinschaft wird. Für die Mädchen ist es der Eintritt in die Pubertät, der – je nach traditioneller Ausrichtung der Familie – bedeuten kann, dass sie nun in ihren Freiheiten viel stärker beschränkt und in ihrem Verhalten mehr kontrolliert wird.

Praktizierte Religion

Zur praktizierten Religion gehört vor allem das vorgeschriebene (aber längst nicht immer praktizierte) fünfmal tägliche rituelle Gebet mit seiner genau festgelegten Abfolge von Niederwerfungen und auf arabisch rezitierten Koranversen und Gebetsformeln. Das Gebet muss korrekt auf Arabisch gebetet werden, auch wenn der Betende eine andere Muttersprache spricht. Daher sind eine Mindestkenntnis des Arabischen und die Unterweisung in der korrekten Abfolge des Gebets besonders wichtig, um den Islam praktizieren zu können.

Man geht davon aus, dass ein Kind etwa mit 7 Jahren mit dem rituellen Gebet beginnen sollte. Mit 10 Jahren sollte es das Gebet beherrschen und auch vollziehen – natürlich in Abhängigkeit davon, wie streng die Familie selbst der Gebetspflicht nachkommt. Die Befolgung der „Fünf Säulen des Islam“ und insbesondere die Einhaltung der Gebete gelten für Männer und Frauen als absolut verpflichtend. Das Gebet absichtlich zu versäumen, ist von muslimischen Theologen immer wieder als eine der schwersten Sünden überhaupt bezeichnet worden, ja, als eine Form des Unglaubens. Manche Theologen verlangen sogar, Kinder zur Not mit Schlägen zur Einhaltung der Gebetspflicht zu zwingen.

Auch in das 30-tägige Fasten im Monat Ramadan wird das Kind Schritt für Schritt eingeführt. Beim ersten Mal, etwa mit 7 Jahren, fastet es vielleicht nur zwei bis drei Tage, beim nächsten Mal eine Woche. Und mit der Pubertät sollte es in der Lage sein, die ganze Fastenzeit einzuhalten – je nachdem, ob und wie lange die Familie fastet. Ein Großteil der Muslime in Deutschland beteiligt sich daran, aber längst nicht alle in der strengen, 30tägigen Form.

Besucht das Kind ab etwa sechs Jahren die Koranschule, wird es dort vor allen Dingen einige Koranverse durch ständiges Wiederholen auf Arabisch auswendig lernen. Lernziel ist ihre Beherrschung, nicht die Erläuterung ihrer Bedeutung oder etwa eine kritische Auseinandersetzung mit ihrem Inhalt. Die Aneignung zumindest einiger Koranverse gilt als Voraussetzung für die Praktizierung des Islam und vielen zudem als gute Grundlage für jedes spätere Lernen. Häufiger in den Herkunftsländern, seltener hierzulande, beherrschen manche Kinder nach drei oder vier Jahren Unterricht den gesamten Korantext auswendig. Aber auch in Deutschland nehmen manche Kinder an Koranrezitations-Wettbewerben teil; man kann nur erahnen, wie viele Stunden des Übens aufgewendet werden müssen, um eine längere Koransure mit 100 oder 200 Versen korrekt in einer Fremdsprache mit der schwierigen Vokalisation, im richtigen Rhythmus der langen und kurzen Silben, aufzusagen. In westlichen Ländern nehmen manche Muslime aus Furcht vor dem westlich-freiheitlichen oder auch christlichen Einfluß die religiöse Erziehung ihrer Kinder ernster als im Herkunftsland.

Geschlechtsspezifische Erziehung

In islamischen Gesellschaften werden Mädchen früh auf ihre spätere Rolle als Hausfrau und Mutter hin erzogen. Sie übernehmen in aller Regel schon in jungen Jahren Haushaltspflichten und sind meist bereits vor der Pubertät in der Lage, die Mutter in allen Aufgaben des Haushalts zu vertreten. Dies hängt auch damit zusammen, dass Mädchen mit Eintritt der Pubertät prinzipiell als heiratsfähig gelten, auch wenn die meisten Ehen nicht so früh geschlossen werden. Auch die Fürsorge für jüngere Geschwister als Vorbereitung auf die spätere Mutterrolle gehört für Mädchen zum Aufgabenfeld, das im traditionellen, aber vor allem im ländlichen Bereich meist als selbstverständlicher betrachtet wird als der höhere Schulbesuch.

In traditionellen Gesellschaften wird die Aufgabenteilung und Geschlechtertrennung zwischen Männern und Frauen als Teil der Religion betrachtet, denn sie wird mit dem Koran und dem islamischen Eherecht begründet. Nach diesem Eherecht verpflichtet die Eheschließung den Ehemann dazu, alleine für den Unterhalt seiner Familie aufzukommen. Er vertritt die Familie nach außen, trifft aber auch die anstehenden Entscheidungen über Wohnort, Schulbesuch, Eheschließung oder Berufsausbildung, während der Ehefrau die Fürsorge für die Kinder und die Führung des Haushalts zufallen. Da bis heute die nahöstlichen Gesellschaften viel stärker vom Gemeinschafts- und Gesellschaftsdenken als vom Individualismus geprägt ist, wird entsprechend erwartet, dass der einzelne seinen Platz ausfüllt und zuerst an das Wohl der Gemeinschaft denkt.

Jungen werden daher in islamischen Gesellschaften früh auf eine Identifizierung mit der Welt des Vaters in der Moschee, der Öffentlichkeit und seinem Beruf geprägt. Im Schulbesuch, der Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit, der Eigenverantwortlichkeit, sowie oft selbst in der medizinischen Versorgung genießen sie deutliche Privilegien vor ihren Schwestern, und zwar auch dann, wenn diese älter sind. Zwar gilt eine Frau in religiöser Hinsicht prinzipiell vor Gott als gleichwertig, jedoch hat sie im Ehe- und Erbrecht, in Entscheidungsbefugnissen, in der Religionsausübung (durch rituelle Unreinheit und eingeschränkte Handlungsfähigkeit) und durch die streng-moralische Beurteilung ihres Lebenswandels durch ihre Umwelt erhebliche Einschränkungen hinzunehmen. In der Migration in Deutschland ist die Situation komplizierter. Wenn die Eltern in ihrer neuen Heimat „angekommen“ sind, können sie ihren Töchtern und Söhnen positive Vorbilder für die Vereinbarkeit beider Kulturen sein, die zweisprachig aufwachsen. Andere jedoch – besonders Mädchen – fühlen sich zwischen den im Elternhaus vermittelten Werten und der westlichen Gesellschaft mit ihren Möglichkeiten und Freiheiten oft hin- und hergerissen und werden z. T. unter starken familiären Druck gesetzt. Kommen Drohungen, eine Zwangsehe oder Gewalt hinzu, bleiben für sie oft nur die gleichermaßen schmerzhaften Wege der Anpassung oder der totale Bruch mit der Familie.

Angemessenes, respektvolles Verhalten gegenüber Eltern, Älteren im allgemeinen, von Frauen gegenüber Männern, Zurückhaltung im Umgang mit dem anderen Geschlecht und die Wahrung eines untadeligen Rufes für Mädchen und Frauen gehören zu den grundlegenden traditionell-islamischen Erziehungsidealen. Gerade der Wunsch vieler muslimischer Eltern, den guten Ruf und die Heiratschancen der Töchter zu wahren, führt in der Migration immer wieder zu Konflikten, wenn Mädchen von Klassenfahrten oder Freizeitaktivitäten der Schule ferngehalten werden. Sie wohnen, bildlich gesprochen, oft gleichzeitig im anatolischen Dorf und in der deutschen Großstadt und können beide Welten nicht miteinander vereinbaren. Viele bräuchten Ermutigung oder praktische Hilfen bei der Bewältigung der schulischen Aufgaben, und manche ihrer Mütter gute Freundinnen in der Nachbarschaft.

Autorin dieser Ausgabe: Prof. Dr. Christine Schirrmacher